Im Zauber der Wandlung

Vor drei Wochen sind bei uns sechs kleine Raupen eingezogen. Nachdem sie sich aus ihrer Starre gelöst haben haben sie die nächsten Tage damit verbracht viel zu essen und haben sich unheimlich schnell vergrößert. Bald ging es über in das Puppenstadium – diese Verwandlung geschah innerhalb von Minuten. Die dunkeln borstigen Raupen waren nun eingehüllt in einen Kokon, der golden schimmerte. Unglaublich! Dort verharrten sie dann in völliger Ruhe für die nächsten Tage. Gestern war es dann soweit und – nachdem sich die Puppe dunkel verfärbt hatte – sah man schon orangene Farben durch die dünne Haut scheinen und der erste Schmetterling schlüpfte. Nach und nach sind nun die anderen gefolgt und nur noch einer befindet sich in der Metamorphose. Wir freuen uns sehr, dass es in den nächsten Tagen wieder warm und sonnig wird und wir die Tiere dann in den Frühling und die Welt fliegen lassen können.

Es war sehr spannend diesem Prozess zuzusehen. Ich finde es als eines der faszinierensten Dinge, die wir in der Natur beobachten können. Die Metamorphose, wo sich eine Form in eine chaotisch breiige Form gibt – in einer schützenden Hülle sich diesem Geschehen hingibt – um in einer erstaunlich anderen und wunderschönen Form, so wie sie bestimmt ist wieder in die Welt zu kommen. Deshalb finde ich diesen Entwicklungsprozess auch ein sehr glückliches Gleichnis für uns Menschen, wenn wir uns in einer Krise befinden – resultierend aus Trauer oder einem anderen Geschehen in unserem Leben. Auch wir befinden uns in einem formlosen Chaos in dieser Zeit. Vielleicht hilft uns der Gedanke, dass wir Krisen als Entwicklungsprozess sehen können, die uns helfen das zu werden, was wir sein sollen und uns, auch wenn es sicher nicht leicht fällt, uns in das Bild geben, dass wir beschützt sind und auf den Prozess vertrauen dürfen. Vorausgesetzt, wir lassen uns darauf ein und gehen nicht in Widerstand.

Es gibt ein passendes Gedicht von Rainer Maria Rilke:

GEDULD

Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen,

die tief von innen kommt und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann,

alles ist austragen – und dann gebären…

Reifen wie ein Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,

ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,

so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben mit dem ungelösten im Herzen,

und versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben,

und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum alles zu leben.

Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,

ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.

Mit lieben Grüßen,
Tina

Published On: 10. April 2022